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Zielorientierte Gesprächsführung

Zielorientierte Gesprächsführung 

Michael Kletter, München (1998)


Worüber redet der Arzt eigentlich mit seinem Patienten in der Psychosomatischen Grundversorgung?

Bei einem Erstkontakt geht es anfangs selbstverständlich um die Symptomatik, die den Patienten in die Praxis führt, und diese ist bei der anschließenden Ausschlussdiagnostik auch immer wieder Thema. Dann aber weiter über die Beschwerden zu reden, ist bei der anschließenden Untersuchung der psychischen Zusammenhänge der Erkrankung nicht sinnvoll.

Jetzt geht es vielmehr darum, hinter die Symptome zu schauen, auf die Zusammenhänge, die zur Symptombildung beigetragen haben. Und dazu ist die gegenwärtige Lebenssituation des Patienten zu thematisieren, denn wenn es ihm nicht gelingt, für die aktuellen Inhalte und Aufgaben seines Lebens angemessene Lösungen zu finden, resultieren oft psychische oder psychosomatische Symptome.

Für den Arzt bedeutet das: Sein erstes Ziel in der Psychosomatischen Grundversorgung muss sein, im Gespräch herauszufinden, mit welcher aktuell anstehenden Aufgabe der Patient nicht zurechtkommt.


Dazu ein Beispiel:
Eine 51-jährige Patientin suchte ihren Hausarzt wegen hoher Blutdruckwerte auf. Diese waren in einer Apotheke festgestellt worden,
wohin sie sich bei einer Panikattacke geflüchtet hatte, und es war unklar, ob die Angst Folge einer Hochdruckkrise oder der hohe Blutdruck Folge der Angst war. Anamnestisch ergab sich, dass die Patientin sich bereits seit Wochen ängstlich angespannt gefühlt und in den letzten Tagen bereits zwei schwere Angstzustände erlebt hatte. Die eingehende internistische Untersuchung führte zur Diagnose "krisenhafte hypertone Regulationsstörung".


Der Blick hinter die Symptomatik erschloss dem Hausarzt folgende Lebenssituation: Seit der Scheidung vor 4 Jahren lebte die Patientin mit ihrem jetzt 11- jährigen Sohn allein. Sie wohnte am Stadtrand in der Nähe des geschiedenen Mannes und seiner neuen Familie, "damit der Sohn es nicht so weit zum Vater hat". Sie arbeitete trotz finanzieller Engpässe nur bis mittags und erledigte ihren Haushalt abends, wenn der Sohn eingeschlafen war, "damit ich den ganzen Nachmittag für ihn da sein kann". Sie hatte sich seit Jahren auf keine Männerbeziehungen mehr eingelassen und ging auch nicht mehr aus, "weil mein Sohn den Respekt vor mir verlieren würde, wenn es eine Affäre bleibt und nicht zu einer festen Beziehung führt".


Mit dieser Einstellung war die Patientin gut zurechtgekommen, bis der Sohn nach dem Wechsel ins Gymnasium eine Serie von schlechten Noten mitgebracht hatte, woraufhin sie die oben beschriebenen Symptomatik entwickelte. Als im Gespräch die besorgte, verzichtsbereite Beziehung gegenüber dem Sohn deutlich wurde, fragte der Kollege nach sonstigen Kontakten der Patientin in der Familie, am Arbeitsplatz, im Bekanntenkreis. Dabei bestätigte sich seine Hypothese, dass sie nach dem Beziehungsmotto lebte: "Deine Interessen sind auch meine Interessen, wenn es Dir gut geht, dann geht es auch mir gut." Dementsprechend erlebte sie die schlechten Noten des Sohnes wie ein eigenes Versagen und geriet in Panik.


Die nun mögliche Beschreibung des Zusammenhangs zwischen dem Rollenverständnis als Mutter und der Symptomentwicklung führte bei ihr zu einer deutlichen Entspannung. Während der folgenden Erarbeitung eines neuen, gesünderen Beziehungsmusters (Motto: Mutter und Sohn haben neben vielen gemeinsamen auch unterschiedliche Interessen) trat nach und nach völlige Beschwerdefreiheit ein. Dieser Prozess erforderte 10 weitere Gespräche, verteilt über ein knappes Jahr.


Die eingangs gestellte Frage nach der Gesprächsintention des Arztes in der Psychosomatischen Grundversorgung lässt sich nun folgendermaßen beantworten: Er redet mit seinem Patienten über dessen gegenwärtige Lebenssituation, wobei er sein Augenmerk besonders aufmerksam auf alle zwischenmenschlichen Bezüge richtet. Dabei werden interaktionelle Muster deutlich, deren Tauglichkeit bzw. Untauglichkeit maßgeblichen Anteil am seelischen und körperlichen Befinden des Patienten haben.


Hausarzt Bayern 2/1998; Psychosomatische Grundversorgung (8)