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Zur Notwendigkeit der Methodenintegration
in der Psychotherapie (1996)
Michael Kletter

Die überkommenen Strukturen des Gesundheitswesens der BRD sind in Bewegung geraten. Von den Auswirkungen der Gesundheitsreform wird kein Bereich der Medizin verschont bleiben, auch nicht der der Psychotherapie.
Im Gegenteil: Weil noch weitere gesundheitspolitische Entscheidungen wie der 1993 beschlossene Facharzt für psychotherapeutische Medizin und das wohl in der laufenden Legislaturperiode zu erwartende Psychotherapeutengesetz hinzukommen, ist hier eine besonders tiefgreifende Umstrukturierung zu erwarten. Ohne Prophet sein zu wollen, kann man sagen, daß im Jahre 2000 unser psychotherapeutisches Versorgungssystem nur noch wenig Ähnlichkeit mit dem aktuellen haben wird.

Konkret voraussehbar ist schon heute, dass die Psychotherapie in der kassenärztlichen Versorgung nicht mehr - wie noch heute - Erbhof der Psychoanalyse und der Verhaltenstherapie sein wird. Ob aber die Zulassung weiterer Methoden zum Ende der gegenseitigen Diffamierungen und zum Bemühen, voneinander zu lernen, führen wird oder ob es durch die Betonung des Wettbewerbsgedankens zu neuen Methodenkämpfen kommen wird, ist eine offene Frage. Zwar gibt es unter den Praktikern seit einigen Jahren ein zunehmendes Interesse an integrativen Behandlungsmodellen, in den Fachgesellschaften und Ausbildungsinstituten jeder Couleur scheinen puristische Haltungen jedoch noch zu überwiegen.

Wenn es in Zukunft immer mehr darum geht, gegenüber Gesundheitspolitikern und Kostenträgern die Notwendigkeit und Wirksamkeit der um einen Platz in der kassenärztlichen Versorgung konkurrierenden Methoden nachzuweisen, wird es die Psychoanalyse besonders schwer haben. Nicht nur deshalb, weil die vergleichsweise hohe Stundenzahl der analytischen Verfahren auf zunehmende Skepsis stößt, sondern auch, weil es "für längere und höher frequente psychoanalytische Behandlungen keine ausreichend gesicherten Wirksamkeitsnachweise durch empirische Untersuchungen mit einem in strengem Sinne kontrollierten Versuchsplan (gibt)" (Meyer et al. 1991, S. 89).

Dass dieser Makel, der die Psychoanalyse in hohem Maße angreifbar macht, nicht längst durch entsprechende Untersuchungen widerlegt worden ist, kann man sich nur aus dem Umstand erklären, dass die Psychoanalytiker in der BRD über 20 Jahre im Besitz des Psychotherapiemonopols waren und eine wissenschaftliche Legitimierung nicht nötig zu haben glaubten, da es ihnen ja auch ohne diese gut ging. Jedenfalls war der zur Rechtfertigung immer wieder vorgebrachte Hinweis auf die methodenspezifischen Forschungshindernisse nie ganz überzeugend und erwies sich spätestens zu dem Zeitpunkt als Rationalisierung, als die DGPT ein "Forschungsprojekt zur Effektivität und Effizienz höher frequenter analytischer Langzeitpsychotherapie" ausschrieb. So sehr diese längst überfälligen Anstrengungen zu begrüßen sind, so sehr geben sie doch auch Anlass zu Zweifeln und Kritik, denn damit wird erneut der falsche und schädliche Eindruck erweckt, das Wesentliche an der psychoanalytischen Methode sei der u. a. durch eine höhere Stundenfrequenz ermöglichte regressive therapeutische Prozess. Falsch, weil es bei diesem regressivem Prozess nicht um ein zentrales psychoanalytisches Prinzip, sondern um eine spezifische Behandlungstechnik geht und schädlich, weil sich dadurch die Psychoanalyse verkürzt und eingeengt auf eine besondere Anwendungsform darstellt, während einmal mehr die Tatsache in den Hintergrund gerät, dass es in Gestalt der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie noch eine andere Anwendungsform der Psychoanalyse in den "Richtlinien" gibt. Sie trägt in ihrem tiefenpsychologischen Fundament die psychoanalytischen Grundsätze, hat aber wegen ihrer größeren Distanz zum sog. Standardverfahren einen viel breiteren Indikationsbereich als die analytische Psychotherapie, was in ihren vielfältigen Anwendungsformen (Kurzzeittherapie, Kurztherapie, Fokaltherapie, dynamische Psychotherapie, nieder frequente Therapie in einer längerfristigen, haltgewährenden therapeutischen Beziehung) unmittelbar zum Ausdruck kommt. Bei nachgewiesener Wirksamkeit (Meyer et al. 1991, S. 88) und bei akzeptabler Kosten-Nutzen- Relation hat sie schon heute eine große Bedeutung in der Arbeit des niedergelassenen analytischen Therapeuten, und wegen ihrer Vertretung im Verfahrensrepertoire des Facharztes für psychotherapeutische Medizin wird ihre Anwendung in Zukunft sicher noch erheblich zunehmen (Fürstenau 1994).

Warum die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie trotz dieser Vorzüge von der offiziellen Psychoanalyse weitgehend vernachlässigt wurde und infolgedessen auch bis heute bei vielen Kollegen als Minusvariante der "eigentlichen" analytischen Psychotherapie angesehen wird, soll im Folgenden untersucht werden. Diese Überlegungen werden zu dem Ergebnis führen, dass die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie nur durch die Integration mit Elementen anderer Methoden sich aus ihrer schulbedingten Einengung befreien und ihre ganze Potenz entfalten kann, und dass es im Interesse der Psychoanalytiker liegt, diese Weiterentwicklung mit Forschung zu unterstützen. Schließlich soll die psychoanalytisch-systemische Therapie von Peter Fürstenau im Rahmen der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie als ein integratives Therapiemodell vorgestellt werden.


Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie- ein Aschenputtelschicksal?

Ein Leben im Schatten der "großen Schwester" analytische Psychotherapie war von Geburt an (1967) das Schicksal der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie. Rein quantitativ betrachtet schneidet sie ja auch immer schlechter ab: Gemäß den Richtlinien verfügt sie über weniger Stunden (100 statt 300) und hat bescheidenere Ziele (Konfliktbearbeitung statt Strukturveränderung). Um sie anwenden zu dürfen, genügt dem Arzt schon der Zusatztitel "Psychotherapie", während für die Anwendung der analytischen Psychotherapie der deutlich anspruchsvollere Zusatztitel "Psychoanalyse" erworben werden muß. Kurzum, man benutzt sie, wenn man nicht anders kann, aber sie hat kein gutes Image.

Dass im Vergleich der beiden Verfahren der quantitative Gesichtspunkt eine so große Rolle spielt, hängt damit zusammen, dass bei vielen Kollegen keine ausreichende Klarheit darüber besteht, was man in der tiefenpsychologisch fundierten Behandlung denn anderes als in der analytischen Psychotherapie zu tun hat. Um sich aber auf der einzig relevanten qualitativen Ebene orientieren zu können, braucht der Therapeut eine ausgearbeitete Behandlungstheorie und -methode der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie, die sie deutlich gegen das andere analytisch begründete Verfahren abgrenzt. Der Umstand, dass diese bis heute fehlt, führt immer wieder dazu, dass der Therapeut in konzeptionslosem Pragmatismus "irgendwas" mit dem Patienten macht, oder dass er sich doch wieder an die analytische Behandlungsführung anlehnt, nur eben weniger desselben macht. Zwar skizzieren die Psychotherapierichtlinien und der Kommentar dazu (Faber u. Haarstrick 1994) den Rahmen (psychoanalytische Grundannahmen) und die Aufgabe (Bearbeitung aktueller Konflikte), die dort gegebenen Hinweise zur Behandlungstechnik ("Eine Konzentration des therapeutischen Prozesses wird durch Begrenzung des Behandlungszieles, durch ein vorwiegend konfliktzentriertes Vorgehen und durch Einschränkung regressiver Prozesse angestrebt", Psychotherapierichtlinien vom 4.5. 1990, S. 4) sind aber viel zu vage, als dass man daraus eine praktikable Orientierung beziehen könnte. Das zu bieten ist aber auch nicht ihre Aufgabe, hier wäre vielmehr wissenschaftliche Arbeit gefragt. Doch gibt es nur einige wenige Veröffentlichungen zur tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie, ein Dilemma, das angesichts ihrer großen praktischen Bedeutung nur aus der Einengung der meisten lehrenden und forschenden Psychoanalytiker auf die Langzeittherapie verstanden werden kann.


Geringes wissenschaftliches Interesse an der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie

Von Loch ist 1979 eine Arbeit erschienen, deren Titel "Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie - Analytische Psychotherapie" und vor allem deren Untertitel "Ziele, Methode, Grenzen" beim Leser die Erwartung weckt, hier werde er Informationen erhalten, die ihm im therapeutischen Alltag weiterhelfen. Dieses Versprechen wird jedoch nur hinsichtlich der analytischen Therapie erfüllt, hier ist die Arbeit ergiebig und anregend. Hinsichtlich der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie jedoch ist nach der Lektüre die Ratlosigkeit eher noch größer. Der Autor handelt das Thema ausschließlich auf der quantitativen Ebene ab, entsprechend ziehen sich "Weniger-aIs-Definitionen" wie ein roter Faden durch die Arbeit. Loch hebt wörtlich hervor, "dass die einzelnen therapeutischen Maßnahmen in beiden therapeutischen Bereichen qualitativ übereinstimmen, sich nur quantitativ unterscheiden" (S. 186). Am Ende weiß man, dass der Therapeut in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie von diesem weniger und von jenem gar nichts machen soll, aber was er statt dessen anderes tun soll, bleibt unbeantwortet. Im Gegensatz dazu vermitteln Heig-Evers und Heigl (1982, 1983, 1984) sowie Heigl-Evers et al. (1994) ein sehr klares behandlungsmethodisches Konzept. Als markante qualitative Unterschiede zur analytischen Psychotherapie stellen sie heraus: 1. Das Setting müsse je nach klinischer Notwendigkeit hinsichtlich Sitzungsfrequenz, Behandlungsdauer und Anzahl der beteiligten Personen ("passagere Einbeziehung einer oder mehrerer Bezugspersonen des Patienten") variabel gestaltet werden.

2. Die Aufmerksamkeit des Therapeuten solle sich nach Fokussierung des relevanten Konfliktzusammenhangs vor allem auf das interaktionelle Geschehen in der aktuellen Lebenssituation des Patienten innerhalb wie außerhalb der therapeutischen Beziehung richten.

3. Aus dem Repertoire der üblichen psychoanalytischen Deutungstechnik kämen zwei Interventionsformen bevorzugt zur Anwendung: Die "leitenden Fragen", mit deren Hilfe der Therapeut wichtiges Material des Patienten aktiv zum Thema machen solle und vor allem die Klarifikation:

"Durch die Bevorzugung und die häufigere Anwendung des Klarifizierens unterscheidet sich in unserer Auffassung die tiefenpsychologisch fundierte Methode deutlich von der klassisch psychoanalytischen: Sich abzeichnende Konfliktkonstellationen beim Patienten werden nicht durch breites Assoziieren regressiv vertieft, vielmehr wird, unter Verzicht auf eine solche Regression früher und häufiger vom Therapeuten klargestellt, worum es seiner Ansicht nach augenblicklich geht" (Heigl-Evers et al. 1994, S. 169).

4. Besondere Bedeutung komme der Identifizierung und Klarifizierung von Affekten zu. Dabei gelte als therapeutisches Ziel," ... den Patienten über die von ihm nunmehr registrierten und in ihren Zusammenhängen verstandenen Affekte dazu zu motivieren, seine pathologisch gewordenen psychosozialen Kompromissbildungen so zu verändern, dass sie in ihrer Abwehrfunktion einerseits und in ihrem Befriedigungscharakter andererseits das psycho-physische Gleichgewicht ausreichend balancieren." ... "Ein Kriterium solcher besser gelungenen Kompromissbildungen ist: Der Betreffende kann sich einen größeren Entfaltungs- und Handlungsspielraum für den Umgang mit seinen Bedürfnissen und Wünschen und seiner narzisstischen Bedürftigkeit zugänglich machen" (1994, S. 195).

5. Als unter bestimmten Bedingungen zum Repertoire der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie zugehörige Interventionen werden schließlich auch "Empfehlungen" und "Ratschläge" genannt.


Ein größeres Haus auf das tiefenpsychologische Fundament

Der Ansatz dieser Autorengruppe läuft daraus hinaus, innerhalb des psychoanalytischen Behandlungsinstrumentars die Gewichte so zu verschieben, dass die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie als mittelfristiges Verfahren davon optimal profitieren kann. Dabei respektieren sie den vorgegebenen Rahmen der Richtlinien und halten an der Einsichtsvermittlung als wesentlichem kurativem Faktor fest. Diese Loyalitäten haben der Absicht der Autoren, die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie als eigenständiges Verfahren zu konturieren und zu profilieren so enge Grenzen gesetzt, daß ihr Konzept letztlich an den bestehenden ungünstigen Verhältnissen nichts ändern konnte. Heute in den Zeiten der Gesundheitsreform mit zunehmender Konkurrenz der Leistungsanbieter ist mehr Entschiedenheit gefordert. Wer die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie erhalten und weiterentwickeln will, muß den Mut haben, bestehende Grenzen zu überschreiten, d. h. Illoyalitätsängste gegenüber der eigenen Schulrichtung zu bearbeiten, Vorurteile gegenüber anderen Methoden abzubauen und, wo es erforderlich ist, auf eine Änderung der gesetzlichen Regelungen (z. B. Durchsetzung der längst überfälligen Einbeziehung von Paar- und Familientherapie in den Richtlinienkatalog) hinzuarbeiten. Denn die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie wird nur durch eine behandlungsmethodische und settingmäßige Erweiterung konkurrenzfähig bleiben. Um im Bilde zu bleiben: Auf das tiefenpsychologische Fundament gehört ein größeres Haus, in dem einander sinnvoll ergänzende Verfahren integriert sind.


Die psychoanalytisch- systemische Therapie

Fürstenau (1992) hat mit der psychoanalytisch -systemischen Psychotherapie ein Therapiemodell vorgelegt, das die analytische Methode mit Elementen der systemischen und lösungsorientierten Therapie verbindet. Bevor durch ihn die Eignung der beiden Verfahren zur Integration erkannt und methodisch ausgearbeitet worden war, war es hier wie so oft zwischen psychotherapeutischen Schulen: Die Chancen gegenseitiger Bereicherung waren unter Animositäten und Vorurteilen verschüttet. Solche Chancen dennoch aufzudecken setzt intellektuelle Unabhängigkeit von verselbständigten Schulmeinungen voraus, eine Tugend, die in den psychotherapeutischen Ausbildungsinstituten jeder Richtung weder geschätzt noch gar gefördert wird.

Die von Fürstenau vorgeschlagene Verbindung ist deshalb besonders geeignet, weil Stärken und Vorteile der beteiligten Methoden sich sinnvoll ergänzen: Der systemische und lösungsorientierte Zugang erlaubt, die aktuellen Lebensumstände des Patienten und seine Interaktionen in den verschiedenen Systembezügen differenziert zu erfassen und hat zur Entwicklung eines effektiven und phantasievollen Interventionsrepertoires geführt. Dagegen hat die psychoanalytische Methode ihrerseits ein unvergleichlich differenziertes Verständnis des Individuums in entwicklungspsychologischer und Ich-psychologischer Sicht erarbeitet und besitzt im Gegenübertragungskonzept ein Instrument von hohem Wert für die Diagnostik und zur permanenten Orientierung im therapeutischen Prozess. Den Gewinn seines Verfahrens fasst Fürstenau folgendermaßen zusammen: "Die Integration systemischer und lösungsorientierter Verfahrensweisen in einer umfassenden Theorie progressionsorientierter psychoanalytisch-systemischer Therapie schafft die Voraussetzung für mannigfaltige Variationen, die eine elastische Anpassung der psychoanalytischen Behandlungsmethode an unterschiedlichste klinische Situationen und Versorgungsbedingungen ermöglichen. Erst durch solche umfassende konsistente Behandlungskonzeption werden die Möglichkeiten der Anwendung von Psychoanalyse im Therapiebereich voll ausgeschöpft" (1992, S. 83). In diesem weiten konzeptuellen Rahmen, der von der einstündigen Beratung bis zur höher frequenten Langzeittherapie reicht, hat die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie mit allen relevanten Settings (Einzel, Gruppe, Paar, Familie, stationäre Therapie) ihren Platz. Wie sie in dem integrativen Konzept Fürstenaus konkret aussieht, soll durch die Darstellung einiger charakteristischer Merkmale der systemischen und lösungsorientierten Psychotherapie vermittelt werden: 1. des Therapieziels, 2. des Aufmerksamkeitsfokus des Therapeuten und 3. der Interventionsmethodik (weiterführende Literatur: Berg u. Miller 1993; Boscolo et al. 1990; Fisch et al. 1991; Ludewig 1993; Madanes 1989; Selvini Palazzoli et al. 1978; de Shazer 1989, 1990; Watzlawick u. a. 1980; Weiss 1989). Dabei wird jeweils der verfahrensmäßige Unterschied zur Arbeit in der analytischen Psychotherapie deutlich gemacht und auf die spezifischen Gefahren hingewiesen, denen der analytisch ausgebildete Therapeut besonders leicht erliegen kann. Die Kenntnis der tiefenpsychologischen Grundlagen und der Regeln der Übertragungsanalyse werden beim Leser als bekannt vorausgesetzt.


Merkmal: Therapieziel

Das Ziel des Therapeuten ist es, dem Patienten (-system) bei der Überwindung seiner aktuellen Problematik behilflich zu sein. Dazu muss er im Patienten eine Vorwärts- bewegung ermöglichen, die diesen aus der regredierten Verfassung, in der er in die Therapie gekommen ist, herausführt, ihn wieder in Kontakt mit seinen Stärken und Fähigkeiten bringt und ihm Mut und Zuversicht gibt, im Schutz der Therapie die Probleme zu lösen, mit denen er alleine nicht fertig wird. Solch ein progressionsorientiertes Arbeiten setzt beim Therapeuten zuallererst die Überzeugung voraus, dass Weiterentwicklung ohne vorangehende Veränderung der Persönlichkeitsstruktur des Patienten möglich ist, dass vielmehr ersteres das zweite in der Regel nach sich zieht, sich also die Persönlichkeit ändert, wenn der Patient sein Leben ana ders interpretiert und/oder auf di~ Verhaltensebene verändert. Damit hat der analytisch orientierte Therapeut oft Schwierigkeiten, da er als Folge seiner an der Langzeitanalyse orientierten Ausbildung wie selbstverständlich von der Notwendigkeit der Regression zur Ermöglichung von Veränderungen und von der Überlegenheit langfristiger Therapie gegenüber kurz- und mittelfristiger Therapie ausgeht. Es bedarf erheblicher innerer Arbeit an diesem Vorurteil, vieler korrigierender Neuerfahrungen in supervidierten Therapien und des Erwerbs eines geeigneten Interventionsrepertoires, bis dieser Kollege glauben kann, dass man auch mit begrenztem Aufwand dem Patienten helfen kann. Andernfalls gerät die Behandlung unweigerlich und oft unbemerkt auf das Gleis der analytischen Psychotherapie, wo sie ihr ursprüngliches Ziel verfehlen muss.


Merkmal: Aufmerksamkeitsfokus

Der Therapeut beachtet und registriert aufmerksam alle Hinweise auf Gesundheitsressourcen. Jede Ausnahme von der Symptomatik, jeder Ansatz einer Lösung stellt für ihn, trotz aller noch so krassen Pathologie, ein Stückchen psychischer Gesundheit dar. Ob in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, ob im realen Leben oder in einer suggestiv induzierten Lösungsvorstellung, kein Hinweis auf gelingendes Leben wird außer acht gelassen, denn dahinter stehen ungenutzte Lösungsansätze, blockierte Ressourcen, die es zu aktivieren gilt. Das Charakteristikum systemischen und lösungsorientierten Arbeitens, sich ganz entschieden auf die Entdeckung und Weiterentwicklung psychischer Gesundheit auszurichten, macht diese Methode zur Integration mit der analytischen, deren Aufmerksamkeit ja in erste Linie der Erforschung und Bearbeitung der Pathologie gilt, besonders geeignet. Die Integration ermöglicht ein bifokaIes Arbeiten, mit einem Konflikt( Krankheits-) Fokus und einem Lösungs- (Gesundheits-) Fokus. Nur wer über diese "beiden wesentlichen simultanen Aspekte der Behandlungsmethodik" (Fürstenau 1994, .. 96) verfügt, kann jeweils angemessen auf den Patienten reagieren und ihm mit begrenztem Aufwand und in begrenzter Zeit aus seiner Problematik heraushelfen.

Damit ist auch schon die Gefahr genannt, die hier auf den analytisch orientierten Therapeuten wartet: Er kennt sich in der Krankheitslehre der Psychoanalyse aus und erfasst schnell alles, was nicht stimmt, um dann daran zu arbeiten. Mit so einer einäugigen Sicht auf den Patienten ist eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie aber nicht zu führen. Hier geht es vielmehr darum, nach dem Erkennen des Musters des zentralen Konflikts (oder Defekts) und seiner systemischen Auswirkungen, entschieden die innere Weiche auf Ressourcenerschließung umzustellen und der Faszination zu widerstehen, die mit der immer genaueren Erforschung der Pathologie zweifellos verbunden ist. Wer gelernt hat, jedes Symptom als Spitze eines Eisbergs zu sehen, erliegt dieser Gefahr nur zu leicht und wird damit in dem hier vorgegebenen Rahmen Schiffbruch erleiden. In der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie ist jedoch der Lotse gefragt, der von Eisbergen etwas versteht, besonders von ihrem gefährlichen Unterwasseranteil, und der zusätzlich die Fähigkeit besitzt, den Raum zwischen den Eisbergen fachmännisch einzuschätzen und für seine Manöver zu nutzen, so daß er das Schiff sicher aus der Gefahrenzone heraus aufs freie Meer navigieren kann.


Merkmal: Interventionsmethodik

Was heute als system- oder lösungsorientierte Psychotherapie bezeichnet wird, hat sich aus verschiedenen theoretischen Ansätzen entwickelt. Bezüglich der Interventionsmethodik gibt es dennoch breite Gemeinsamkeiten, von denen im Folgenden einige skizziert werden sollen:

Eine ist das Bemühen des Therapeuten um eine möglichst atheoretische nichtnormative Einstellung zu Sichtweise und Bezugsrahmen des Patienten ("Respekt vor der Autonomie des Systems", Schiepek 1993). In einer Haltung, die dem Psychoanalytiker auf den ersten Blick naiv erscheinen mag, bemüht sich der systemische Therapeut um die Erfassung der aktuellen Lebenssituation durch die Augen des Patienten. Mit Naivität hat das allerdings nichts zu tun, sondern es bedeutet, dass der Therapeut die konkrete Wirklichkeitskonstruktion des Patienten ernst nimmt: "Die Sichtweise des Klienten wird einfach akzeptiert, so wie sie sich darbietet" (Berg u. Miller 1993, S. 21). Um sie zu erschließen, wurde eine differenzierte Fragekultur (z. B. zirkuläre, reflexive, unterschiedsbildende Fragen) entwickelt, die eine präzise Erfassung des "Überweisungskontexts" ermöglicht. Wenn sich der Therapeut auf diesem Wege dem Patienten nähert, wird rasch klar, dass es ursprünglich achtungswürdige Vorstellungen und Absichten waren, bei deren Verfolgung der Patient in sein momentanes Dilemma geraten ist. Gegen das Ansprechen seiner Pathologie in dieser Weise (positive Konnotation der Klagen, Beschwerden, pathologischen Vorstellungen und Erwartungen) muß sich der Patient nicht schützen, im Gegenteil: Derartige Interventionen ermöglichen ein widerstandsfreies Arbeiten und haben einen hohen Wert für den Beziehungsaufbau ("Arbeitsbündnis"), weil sie die von Problemen und Symptomen verletzte Würde des Patienten wieder aufrichten und in ihm die Hoffnung wecken, dass ihm in der Therapie geholfen werden wird. Respekt vor der Autonomie des Systems kommt auch darin zum Ausdruck, dass der systemisch arbeitende Therapeut sich strikt an den Arbeitsauftrag des Patienten hält. D. h. allerdings nicht, daß er sich für unrealistische oder absurde Ziele einspannen lässt, sondern dass er die mit solchen Zielvorstellungen verbundene Veränderungsmotivation im Sinne der anstehenden Entwicklungsschritte nutzt ("Utilitätsprinzip" nach Milton Erickson).

Eine weitere Übereinstimmung der systemisch arbeitenden Therapeuten bezieht sich darauf, dass sie die Vorstellungen oder Verhaltensweisen des einen Menschen immer in Verbindung mit Vorstellungen und Verhaltensweisen von anderen Menschen sehen und sich mehr für die dabei entstehenden Denk- und Verhaltensmuster interessieren als für die Details der persönlichen Pathologie. Therapeutisch geht es dann auch nicht um die Bearbeitung von Konflikten oder Defizienz, sondern um Musterunterbrechung: Durch gezielte Interventionstechniken (z. B. Zukunftsprojektionen, Reframing, positive Konnotation, kognitive Umstrukturierung, Skalenverwendung, paradoxe Intervention und Symptomverschreibung) soll das bestehende Muster in einer Weise gestört, destabilisiert werden, die das System wieder empfänglich macht für die entwicklungsstimulierende Wirkung eigener Kompetenzen und Ressourcen oder es öffnet für Impulse von außen, also für weitere therapeutische Einflussnahme.

Als letztes Charakteristikum systemischen Arbeitens soll noch auf die therapeutische Einflussnahme durch suggestiv wirksame Interventionen eingegangen werden, besonders weil Psychoanalytiker darauf in der Regel misstrauisch bis ablehnend reagieren. Dabei hat das, was hier praktiziert wird, nichts mehr zu tun mit dem, was Freud vor 100 Jahren bei Charcot gelernt und später zurecht verworfen hat: Bei der hier dargestellten, aus der Hypnotherapie Milton Ericksons (Übersicht bei Haley 1978) abgeleiteten Vorgehensweise geht es nicht um Einflussnahme gegen den Willen des Patienten, sondern darum, ihm die Kontaktaufnahme zu seinen Stärken und ganz persönlichen Lösungsvorstellungen zu ermöglichen. Das geschieht dadurch, dass der Therapeut durch Fragen, Anregungen, Zielvorgaben, Experimente, hypothetische Gedankenspiele die Aufmerksamkeit des Patienten vom Problem zur Lösung umlenkt. Die Hypnotherapeuten sprechen in diesem Zusammenhang von der Umwandlung der "Problemtrance", die bei Therapiebeginn regelmäßig vorliege, in eine "Lösungstrance", in der therapeutischer Fortschritt überhaupt erst möglich werde.


Psychoanalytisch und systemisch

Vieles von der dargestellten Interventionsgrundlage und -methodik geht dem analytisch ausgebildeten Therapeuten erst einmal gegen den Strich. Verglichen mit seinem oft mühsamen Kampf um Einsichtsvermittlung in zuvor unbewusste Zusammenhänge muss ihm die hier vorgeschlagene Interventionstechnik als oberflächlich und unangemessen optimistisch erscheinen. Zwar verwendet er auch supportive Techniken zur Bildung und Aufrechterhaltung einer "hilfreichen therapeutischen Beziehung" (Luborsky 1988), sein hauptsächliches therapeutisches Interesse ist jedoch darauf gerichtet, die relevante Problematik gemeinsam mit dem Patienten immer besser und genauer zu verstehen. Diesem bleibt es dann überlassen, mit Hilfe der gewonnenen Einsichten bisher ungenutzte Veränderungsfreiräume zu erkennen und auszufüllen. Eine derartige Behandlungsmethode, die auf die direkte Entwicklungsförderung durch Ressourcenmobilisierung verzichtet, beinhaltet die Gefahr des Steckenbleibens im Verstehen mit der Folge des Ausbleibens von Veränderungen. Wenn sie auch im Rahmen langfristiger, höher frequenter Therapie bei spezieller Indikation sinnvoll eingesetzt werden kann, so ist sie doch für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie als nieder frequentes, kurz- bzw. mittelfristiges Verfahren ungeeignet. Das ist eben der Gewinn der von Fürstenau vorgeschlagenen Methode: Dass der Therapeut "zwei Ansatzpunkte und Richtungen für die Arbeit mit dem Patienten (hat):

1. Er kann an den gesunden oder mit dem von Freud bevorzugten Wortgebrauch: normalen Persönlichkeitsbereichen anknüpfen, sie fördern, stärken, kurz, ihre weitere Entwicklung anregen, 2. sich den pathologischen Persönlichkeitsanteilen zuwenden, die aktualisiert wurden. Diese zweite Alternative beinhaltet die uns bekannte Arbeit an der Übertragung, die sich im psychoanalytischen Raum entwickelt" (Fürstenau 1992, S. 66).

Es ist also die zusätzliche Einbeziehung dieser systemischen und lösungsorientierten Dimension, die den Therapeuten erst in die Lage setzt, das Potential seines analytischen Verständnisses für das Verfolgen des Therapieziels ganz zu erschließen: Bei simultaner Beachtung beider Dimensionen kann er je nach klinischer Situation zwischen lösungsorientiertem und einsichtsförderndem Intervenieren wählen und ist damit in der Lage, den therapeutischen Prozess so zu steuern, dass die aktuelle Problematik nicht nur verstanden, sondern auch wirklich überwunden wird.


Die Begegnung mit der systemischen und lösungsorientierten Methode löst im Analytiker zumindest Verwunderung, oft auch Befremden und Ablehnung aus. Wem es in Fleisch und Blut übergegangen ist, dass therapeutischer Fortschritt im wesentlichen aus einem Zugewinn an Selbsterfahrung und Selbstverständnis zu erwarten ist, der kann nicht anders, als auf änderungsorientierte, suggestive Maßnahmen mit Zweifeln und Misstrauen zu reagieren. Zwar wird von vielen Kollegen die Einengung auf Einsichtsvermittlung für stagnierende Verläufe verantwortlich gemacht, zwar klagt man darüber im vertrauten Kreis und räumt mit mehr oder weniger schlechtem Gewissen ein, dass man gar nicht so selten gegen diese Regeln verstößt, sobald aber öffentliche Kritik an der psychoanalytischen Deutungstechnik geübt und ihre Revision gefordert wird, wittern dieselben Kollegen Verrat und werden zu Puristen. Von da ist es oft nur ein Schritt zu diffamierender Polarisierung, die in der Psychoanalyse eine lange Tradition hat (Cremerius 1984) und an deren Ende in aller Regel Psychoanalysefeindschaft als bewusstes oder unbewusstes Motiv des Kritikers entlarvt wird. Solch militanter Purismus (siehe z. B. Schubart 1992; Fürstenau 1992 b) wird die Annäherung der Methoden und den damit verbundenen Machtverlust der Therapieschulen auf Dauer nicht aufhalten können. Im Gegenteil: Wahrscheinlich wird die Methode, die sich selbst um die Integration mit anderen Therapieansätzen zum Zweck der Qualitätssteigerung bemüht, ihre Essentials am ehesten bewahren können, während die Vertreter der reinen Lehre Gefahr laufen, sich in der Abgrenzung gegen die anderen therapeutischen Richtungen zu isolieren und dabei die gesundheitspolitische Bedeutung ihrer Methode zu schmälern.

Deshalb ist die eingangs gestellte Frage, ob mit dem Forschungsprojekt der DGPT die Interessen der psychoanalytisch ausgebildeten Therapeuten ausreichend vertreten werden, zu verneinen: Es hat seinen unbestreitbaren Wert in der längst überfälligen wissenschaftlichen Legitimierung des regressionsfördernden höher frequenten Ansatzes für eine bestimmte, spezielle Indikationsstellung. Das wird jedoch nicht mehr als ein weiteres Argument im Methodenstreit sein, wenn nicht gleichzeitig erforscht wird, wie durch Integration geeigneter anderer Ansätze eine möglichst breite Anwendung der psychoanalytischen Methode in der Krankenversorgung erreicht werden kann. Die hier im Richtlinienrahmen der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie vorgestellte psychoanalytisch- systemische Psychotherapie von Fürstenau ist so ein integriertes Modell, aber sicher nicht das einzig denkbare: In der Schweiz haben Blaser et al. (1992) ein betont eklektizistisches Konzept mit ebenfalls tiefenpsychologischer Fundierung vorgestellt. Aus dem Bereich der Verhaltenstherapie kam kürzlich der Vorschlag, hypnotherapeutische Elemente in die kognitiv-behaviorale Therapie zu integrieren

(v. Revenstorf 1994). An vielen psychiatrischen, psychotherapeutischen und psychosomatischen Kliniken sind integrative Ansätze schon längst gang und gäbe. Auch in Fachzeitschriften spiegelt sich der Trend zur Methodenannäherung wider: In der BRD gibt es seit 1994 die schulübergreifende Zeitschrift "Psychotherapeut" mit dem erklärten Ziel, "eine zu enge Methodenfixierung durch beständigen Blick auf die "Nachbarn" zu verhindern" (Editorial 1994, S. l), in Österreich existiert das "Psychotherapie Forum" mit gleicher Intention schon seit 1993.

All das sind Schritte auf dem Weg zu einer schulübergreifenden patientenorientierten Psychotherapie. Exakt in diesem Sinne äußert sich Strupp (1993) in einer Arbeit über zeitgenössische Strömungen in der Psychotherapie:

"Abschließend möchte ich bemerken, dass sich heute wenige Therapeuten "Puristen" nennen; statt dessen scheint die Szene vom Eklektizismus bestimmt. Diese Bewegung spiegelt den endgültigen Abschied von einer orthodoxen Haltung sowie größere Offenheit der meisten Therapeuten, sich an wechselnde Umstände anzupassen und ihre Techniken auf die wechselnden Bedürfnisse der Patienten sowie der Forderungen unserer vielschichtigen Gesellschaft anzupassen."

Wer sich an dieser spannenden Entwicklung beteiligt, nimmt heute Einfluss auf die Gestalt der Psychotherapie von morgen. Diese Chance sollte die offizielle Psychoanalyse in Deutschland wahrnehmen, andernfalls würde sie sich selbst und den zukünftigen Psychotherapiepatienten einen schlechten Dienst erweisen.

Psychotherapeut (1996) 41: 361-367 © Springer-Verlag 1996