In maximal 40 Stunden eine Besserung erreichen
Psychotherapie-Serie, 2. Folge: Psychoanalytische Kurztherapie
Michael Kletter
Um das Wesentliche gleich an den Anfang zu stellen: Kurztherapie ist nicht eine verkürzte Langzeittherapie, sondern ein eigenständiges Verfahren mit definierten Anwendungs-, Ziel- und Ausführungskriterien. Dabei ist erklärtes Ziel einer jeden Kurztherapie unabhängig von der jeweiligen therapeutischen Schulrichtung, dem Patienten die Überwindung seiner aktuellen Problematik zu ermöglichen. Im Gegensatz dazu verfolgen längerfristige Therapien zum Teil viel weitergehende Ziele (z. B. Bearbeitung der Persönlichkeitsstruktur), und so kam es besonders innerhalb der Psychoanalyse immer wieder zu Kontroversen mit der unproduktiven Fragestellung, welcher Ansatz denn nun "richtig" und welcher "falsch" sei (Ferenczi und Rank, 1923; Alexander und French, 1946).
Psychotherapieverfahren mit spezifischer Zielrichtung
Inzwischen hat sich weitgehend die Sichtweise durchgesetzt, daß es unterschiedliche Anwendungsformen der Psychoanalyse mit jeweils spezifischer Zielsetzung gibt. Diese Haltung kommt auch in den sogenannten Psychotherapierichtlinien zum Ausdruck, in denen die Ausübung von Psychotherapie in der kassenärztlichen Versorgung geregelt ist. Dort sind als Anwendungsformen der Psychoanalyse neben einem langfristigen ("analytische Psychotherapie", bis maximal 300 Std.) und einem mittelfristigen ("tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie", bis maximal 100 Std.) auch zwei kurzfristige Verfahren aufgeführt: Die "Fokaltherapie" mit höchstens 30 Std., die als "das technisch am besten ausgearbeitete psychoanalytische Kurzverfahren" (Leuzinger-Bohleber]; 1985) gilt, und die "analytische Kurztherapie" mit maximal 40 Std., deren praktische Bedeutung allerdings in dem Maße geringer geworden ist, wie die Methodik des fokussierenden Arbeitens weiterentwickelt wurde (Klüwer; 1978;
Lachauer; 1992). Die folgende Darstellung der wesentlichen methodischen Merkmale einer analytischen Kurztherapie bezieht sich deshalb auch auf die Fokaltherapie
als deren "klassische Form" (Faber und Haarstrick, 1989).
Einführung in die Technik des Verfahrens
-Erkennen des aktuellen Hauptproblems: Der Therapeut muss zu allererst das dem Patienten bewusste aktuelle Hauptproblem erkennen, das die akute Symptomatik der Erkrankung auslöste. So einfach das klingt, so schwierig ist es oft in der Realität zu erfüllen. Man denke nur an den Patienten, der den Arzt mit Klagen und Beschwerden überschüttet oder an den anderen, der größte Schwierigkeiten hat, überhaupt etwas über sich zu sagen.
-Einigung über das Therapieziel: Als nächstes muss mit dem Patienten eine Einigung über das Ziel der Therapie (Was soll erreicht werden?) und über die Kriterien des Ziels (Woran wird man erkennen, dass das Ziel erreicht ist?) hergestellt werden. Nur wenn der Patient spürt, dass der Therapeut mit ihm am selben Strang zieht, wird er motiviert mitarbeiten und Verantwortung für das Gelingen der Therapie übernehmen.
-Erarbeiten des Fokus: Der Fokus ergibt sich durch Integration des bewussten Hauptproblems und dessen unbewusster Hintergründe zu einem plausiblen Sinnzusammenhang, der dann als "Fokalsatz" (Lachauer; 1992) ausformuliert wird. Seine Erarbeitung setzt das Erlernen einer spezifischen Methodik voraus und erfordert permanentes Training. Mit dem Fokus hat der Therapeut nun ein Instrument zur Verfügung, das ihm in den unterschiedlichsten Situationen mit dem Patienten Orientierung ermöglicht und ihn bei der Auswahl geeigneter therapeutischer Interventionen unterstützt.
-Die Aktivität des Therapeuten: Die Ausübung der psychoanalytischen Fokaltherapie erfordert "gründliche analytische Kenntnisse und umfassende therapeutische Erfahrungen" (Faber und Haarstrick, 1989). Diese Kompetenzen jeweils in begrenzter Zeit anzuwenden, verlangt allein schon ein hohes Maß an innerer Aktivität. Zusätzlich stellt die Notwendigkeit, aus wenigen Informationen Hypothesen zu bilden und sie zu Deutungsstrategien weiterzuentwickeln bzw. zu verwerfen und durch bessere zu ersetzen, große Forderungen an die Elastizität des Therapeuten. Und schließlich hat er für die Fokuserarbeitung zu Therapiebeginn und für die im Verlauf permanent zu leistende Fokuserkennung weitere Anforderungen zu erfüllen.
Indikationen und Wirksamkeit
Eine zeitlich und auf bestimmte Inhalte begrenzte Fokaltherapie verlangt vom Patienten nicht das gleiche relativ hohe Maß an psychischer Reife wie eine Langzeitbehandlung mit ausgedehnten regressiven Phasen und deutlicher Aktualisierung von Abhängigkeitsängsten (Klüwer; 1985). Andererseits gelten hohe Motivation und zumindest durchschnittliche intellektuelle Fähigkeiten als Voraussetzung für das psychoanalytische Kurzverfahren. Psychose, Borderline-Persönlichkeitsstörung. und schwere Depression werden als Kontraindikation genannt (Malan, 1963; Bohleber-Leuzinger]; 1985).
Dass bei der Indikationsstellung auch äußere Faktoren wie der Wirtschaftlichkeitsaspekt kassenärztlichen Handelns und natürlich die zur Verfügung stehende Zeit bei Patient und Therapeut eine Rolle spielen, versteht sich von selbst.
Aufgrund der Auswertung von 27 Therapiestudien über psychoanalytische Kurztherapie kommen Meyer et al. (1991) zu folgender Beurteilung: "Psychoanalytische Kurztherapie bewirkt bei Neurotikern und persönlichkeitsgestörten Patienten eine sehr effiziente Reduktion der Hauptsymptomatik sowie eine Steigerung des Wohlbefindens. ( ...) Insgesamt gesehen kann die Wirksamkeit psychoanalytischer Kurztherapie . .. mit neurotischen und persönlichkeitsgestörten Patienten als gesichert angesehen werden."
Weiterentwicklung der Methodik
Parallel zur Erforschung schwerer, früh entstandener psychischer Erkrankungen wurden in der Psychoanalyse Modifikationen der Behandlungstechnik entwickelt, die eine deutliche Erweiterung ihres Anwendungsbereichs ermöglichten (Heigl-Evers, 1987; Luborsky, 1988). Diese finden auch in der Fokaltherapie Anwendung.
Eine neuere Weiterentwicklung in Richtung des Ziels, schwere Störungen mit begrenztem Aufwand zu behandeln, stellt die psychoanalytisch-systemische Therapie (Fiirstenau, 1992) dar. Die Integration systemischer und lösungsorientierter Elemente in die psychoanalytische Methode erlaubt, Vorteile bei der Methoden zu addieren und Schwächen zu kompensieren: In der Praxis führt dieser Ansatz zu einem bifokalen Arbeiten, wobei der psychoanalytische Fokus auf die Aufarbeitung der Pathologie und der systemische Fokus auf die Stimulation und Weiterentwicklung der gesunden Persönlichkeitsanteile zielt (de Shazer; 1989; Insoo Kim Berg et al., 1993).
Nachdem für den jüngst eingerichteten "Facharzt für psychotherapeutische Medizin" vorwiegend kurz- und mittelfristige Verfahren relevant sind, ist schon für die nähere Zukunft eine Zunahme des Interesses an der Erforschung und Anwendung der psychoanalytisch begründeten Kurztherapie zu erwarten.
Gerade wegen der günstigen Aussichten für das hier beschriebene Verfahren soll abschließend betont werden, dass auch der Kurztherapeut immer mit Kompromissen zwischen dem Gewünschten und dem Möglichen wird leben müssen. Zaubern können wir alle nicht, und - damit können wir uns trösten - da geht es uns nicht besser und nicht schlechter als unseren Kollegen aus allen anderen Fachrichtungen innerhalb der Medizin.
Fortschr. Med. 112. Jg. (1994), Nr. 33