Coaching - Pflicht und Kür
Michael Kletter
Referat vor dem „Arbeitskreis Berufsbezogene Beratung“ in München, Juni 1993
Was Coaching zu einem effektiven, maßgeschneiderten Personalentwicklungsinstrument macht.
Coaching ist ein viel gebrauchter, gleichwohl diffuser und zu unterschiedlichsten Vorstellungen einladender Begriff. Dabei ist es eigentlich ganz einfach: Ebenso wie es Nick Bollettieris Aufgabe ist, Andre Agassi für das nächste Turnier fit zu machen, so ist es die Aufgabe des Coach, seinen Klienten – typischerweise eine Führungskraft aus Wirtschaft, Verwaltung oder privaten Unternehmen – so zu beraten, dass er seinen Job wieder erfolgreich machen kann.
Dieser Vergleich hinkt insofern, als es für Andre Agassi zur Normalität gehört, einen Coach zu haben, während die Führungskraft nur im Bedarfsfall einen solchen engagiert, d.h. wenn sie sich in einer schwierigen beruflichen Situation befindet und alle eigenen Anstrengungen, die Probleme zu lösen, zu keinem befriedigenden Ergebnis geführt haben. Wenn so eine Situation der übliche Beginn der Beratung ist, so stellt die Überwindung des Problems ihr logisches Ende dar. Damit ist auch bereits die Aufgabe des Coach beschrieben: Er soll seinen Klienten in kurzer Zeit und mit begrenztem Aufwand von der Problemsituation zur Lösung führen.
Während Ziel und Auftrag für den Coach absolut verpflichtend sind, sind die Themen um die es jeweils geht und die angewandten Vorgehensweisen sehr unterschiedlich und vielfältig. Der Übersichtlichkeit halber wollen wir im Folgenden die Zielverfolgung als Pflicht und die Verlaufsvielfalt als Kür bezeichnen und nacheinander beschreiben, obwohl sie in der Realität natürlich synchron verlaufen. Abschließend sollen einige Kriterien zur Beurteilung des Coachingprozesses aus der Sicht des Klienten genannt und sein notwendiger eigener Beitrag zum Beratungserfolg aufgezeigt werden.
Beginnen wir mit der Pflicht: Wie bedrückt, ratlos, erschöpft und reduziert der Klient auch sein mag, der Coach darf sich von dieser Verfassung nicht allzu sehr beeindrucken lassen. Natürlich wird er anteilnehmend und verständnisvoll darauf eingehen, zugleich muss er aber wissen, dass das aktuelle Bild eine unvorteilhafte Momentaufnahme von einer im übrigen kompetenten Person ist. Und er muss wissen, dass Kompetenzen unter bestimmten Umständen blockiert sein können, unter anderen Umständen jedoch wieder zur Verfügung stehen. Vor diesem Hintergrund ist es seine absolute Pflicht, sich mehr von den Stärken und Fähigkeiten seines Klienten faszinieren zu lassen als von dessen Schwächen und Defiziten. Denn Schwächen und Defizite dürfen wir ruhig haben, solange wir nur Zugang zu unseren Stärken und Fähigkeiten haben!
Eine weitere selbstverständliche Pflicht ist es, sich ein eigenes Bild von der Situation zu machen, in der die Probleme entstanden sind. Auf keinen Fall kann es ausreichen, die Sicht des Klienten einfach zu übernehmen, denn jeder weiß, dass sich unser Blick unter emotionalen Belastungen auf Teilaspekte komplexer Zusammenhänge einengt und magisch von Anzeichen für persönliches Versagen angezogen wird. Also muss sich der Coach selbst einen Überblick verschaffen, indem er die erforderlichen Informationen erhebt und sie in übersichtlicher Weise ordnet. Dazu betrachtet er die geschilderte Situation aus verschiedenen professionellen Perspektiven.
Klären und Sortieren
Die erste obligate Perspektive ist der Blick auf das Problem durch die Augen des Klienten, eine klassische Pflichtübung für jede Form von Beratung. Sie macht die Logik der bisherigen Vorgehensweise des Klienten nachvollziehbar, einschließlich der zugrunde liegenden guten Motive und Absichten und ermöglicht dem Coach eine genaue Einstellung auf sein Gegenüber. Für den Klienten wird die Erfahrung, richtig verstanden zu werden, zur Grundlage für einen vertrauensvollen persönlichen Kontakt.
Die zweite Perspektive richtet sich auf die institutionellen Rahmenbedingungen: Unter diesem Blickwinkel ist zu prüfen, ob die Schwierigkeiten sich zwar auf der Personenebene manifestieren, ihren Ursprung jedoch in der Organisation haben, zum Beispiel in widersprüchlich angelegten Unternehmensstrukturen oder Rollendefinitionen. Gerade in Führungsetagen ist solch eine Tendenz zur Personalisierung organisatorischer Missstände verbreitet. Weil diese Klärung den Coach davor schützt, dass er persönliche Beratung anbietet, wo Organisationsberatung angezeigt wäre, ist sie eine spezifische Coaching-Pflichtübung.
Die dritte Perspektive schließlich ist nach vorne gerichtet: Welche Zielphantasie von der Überwindung des Problems liegt vor? Wie realistisch, situationsspezifisch und handlungsnah ist sie? Was hat den Klienten bisher an ihrer Realisierung gehindert, welche persönlichen Eigenheiten tragen zur Blockade der erforderlichen Kompetenz bei? Welche äußeren Verhaltensweisen und inneren Haltungen, Erwartungen, Überzeugungen des Klienten müssen thematisiert und verhandelt werden, um das blockierte Potential zu befreien und eine bessere Integration der inneren Wirkkräfte zu ermöglichen?
Am Ende dieses gemeinsamen Klärens und Sortierens steht dreierlei: Eine Problembeschreibung, die bereits durch ihre Übersichtlichkeit Entlastung und Zuversicht schafft, ein Entwurf von der Lösung des Problems als Ziel der Beratung und eine Vorstellung von den Ressourcen, die zum Erreichen des Ziels mobilisiert werden müssen. Diese Beratungsetappe sollte in ein bis zwei Gesprächen bewältigt worden sein.
Das Ziel vor Augen
Alles was jetzt noch folgt, ist Zielverfolgung durch Ressourcenmobilisierung. Genauer: Welche Fähigkeiten sind für die Annäherung ans Ziel notwendig, und wie sind sie am geschicktesten zu stimulieren?
Hier gibt es so viele Verläufe wie Klienten: Die Verlaufsunterschiede beginnen bereits mit der Beratungsdauer. Gar nicht selten ist der Beratungsbedarf des Klienten schon durch die Klärung befriedigt und der erarbeitete Überblick setzt genügend Kräfte frei, um die anstehenden Aufgaben alleine weiter zu verfolgen; dann endet das Coaching an dieser Stelle.
Meistens gehen die Erwartungen der Klienten allerdings über dieses Stadium hinaus in den Bereich der Ressourcenmobilisierung. Dazu ein paar Beispiele: Eine Ressource, die in der Hektik des Tagesgeschehens leicht verloren gehen kann, aber auch relativ leicht wieder zu finden ist, ist die rationale Orientierung in den Besonderheiten von Führungstätigkeit: Zu wissen, dass Entscheidungsunsicherheit, unauflösbare Zielkonflikte und Unübersehbarkeit der Folgekosten zur Jobumwelt einer Führungskraft gehören, macht andere Gefühle, als dieselben Umstände der eigenen Unfähigkeit zuzuschreiben.
Wiedergewinnung von Orientierung ist auch angesagt, wenn die berufliche Kommunikation an sich das Problem ist. Gerade weil Führen zum großen Teil Kommunizieren ist, sollte dies unbelastet und unverkrampft möglich sein. Anspannung, Befangenheit und Unsicherheit im Kontakt hängen oft mit unbemerkten "Verwechslungen" zusammen: Fehler können nicht eingeräumt werden, weil sie nicht als Fehler sondern als Nachweis grundsätzlicher Minderwertigkeit erlebt werden; vom Chef wird die Anerkennung erwartet, die vom Vater nicht kam; einem Kollegen wird automatisch die Unterdrückungsabsicht unterstellt, die unter den Geschwistern real erlebt wurde usw. Solche "biografischen Druckstellen" können immer mal wieder spürbar werden, zu falschen Gleichsetzungen verleiten und den zwischenmenschlichen Umgang übermäßig komplizieren. Biografischen Ballast abzuwerfen, macht auch das Berufsleben einfacher!
Eine andere Ressource, die Führungskräften aufgrund der Besonderheiten ihrer Tätigkeit leicht verloren gehen kann, ist die Nutzung der eigenen Gefühle: Oft werden Angst, Enttäuschung, Niedergeschlagenheit oder Sorgen nicht als wichtige Informationen wahrgenommen, sondern ausgeblendet und unterdrückt. Diese scheinbare Vereinfachung kostet ihren Preis, denn unterdrückte Gefühle sind nicht weg, sondern melden sich als Symptome zurück: Von der Konzentrationsstörung bis hin zum Burn-out-Syndrom, von der Schlafstörung bis hin zur psychosomatischen Erkrankung und von der Essstörung bis hin zum Suchtverhalten kann hier alles vertreten sein. In diesen Fällen ist das Aufsuchen der Gefühle hinter den Symptomen, ihre Integration in den relevanten kommunikativen Kontext und ihre Nutzbarmachung als wertvolle Information über Bedürfnisse, Gefahren und Belastungsgrenzen angesagt – eine manchmal lebensnotwendige Ressourcen-Entwicklung!
Dabei ist es im übrigen für die Symptomentwicklung unerheblich, ob die unterdrückten Gefühle aus dem beruflichen oder privaten Bereich stammen - wenn sie zurückschlagen ist der ganze Mensch betroffen. So erklärt es sich, dass im Coaching für das Ziel einer besseren Berufsbewältigung über die unterschiedlichsten Dinge gesprochen werden muss, manchmal auch über ganz Privates.
Methodenvielfalt
Zur Verlaufsvielfalt der Kür trägt natürlich auch die Methodik des Coach bei. Bei allen bisher genannten Themenbereichen hat er gleichsam gesagt: „Aha, Sie haben da ein Problem? Lassen Sie uns schauen, wo Sie feststecken, wo die Reise hingehen soll, und auf welchem Weg Sie am besten ans Ziel kommen!“
Dieser Dreischritt: Identifikation des Problems, Entwicklung von Zielvorstellungen, schrittweise Annäherung ans Ziel ist der Klassiker unter den Coaching-Interventionen. Er wendet sich an den Verstand, ermöglicht Orientierung und befriedigt das Kausalitätsbedürfnis von Klient und Coach.
Eine andere Dynamik ergibt sich, wenn der Coach sagt: “Aha, Sie haben da ein Problem? Lassen Sie uns schauen, wann und unter welchen Umständen Sie es weniger oder gar nicht haben, und wie Sie das hinkriegen!“ Dabei geht er von der trivialen Tatsache aus, daß im Leben nichts immer gleich ist, dass es auch von der größten Misere Ausnahmen gibt, und dass in ihnen die lösungserforderlichen Ressourcen bereits wirksam sind. Sie müssen nur erst ans Licht gebracht werden, sozusagen aus dem Schatten des Problems herausgeleuchtet werden, damit der Klient sie gezielt anwenden kann.
Weil dieses Vorgehen sich auf geschickte Weise des urmenschlichen Funktionsprinzips bedient, dass Psychologie und Physiologie stets der Aufmerksamkeitsrichtung folgen, hat es – verglichen mit dem „Dreischritt-Klassiker“ – etwas Elegantes an sich: Bei der Beschäftigung mit den Ausnahmen begegnet der Klient automatisch den verloren geglaubten Lösungskompetenzen, durch deren weitere Verfolgung die Gesamtbefindlichkeit genauso stark beeinflusst wird, wie zuvor durch die Problemoccupation – nur eben in die andere, erwünschte Richtung.
Leider lassen sich die Dinge nicht immer elegant lösen, das ist im Coaching nicht anders als sonst im Leben. Wichtig ist nur, dass der Coach über ein vielfältiges methodisches Interventionsrepertoire verfügt, damit er nicht ein drittes Mal versuchen muss, was schon zweimal nicht gegangen ist. Dabei ist es letztlich egal, ob seine Interventionen aus der tiefenpsychologischen, kognitiven, systemischen oder kommunikationspsychologischen Methodik stammen, Hauptsache, er hat
verschiedenartige Werkzeuge zur Verfügung und kann professionell damit umgehen. Der handwerkliche Aspekt spielt gerade in diesem Beratungsabschnitt eine große Rolle.
Zuversicht und Aktivierung
Nach diesem Blick in die Coaching-Werkstatt stellt sich natürlich die Frage, woran der Klient merken kann, ob er bei einem Coach gelandet ist, der es nur gut meint oder bei einem, der es auch gut kann. Im positiven
Fall merkt er es an einer Veränderungsdynamik vom ersten Gespräch an: Er wird sich entlastet fühlen, wenn er in einem geschützten Rahmen seine beruflichen Sorgen und Nöte ausbreiten kann. In ihm wird Hoffung auf einen Erfolg der Beratung wachsen, wenn er verstanden wird, ohne sich lange erklären zu müssen. Sein lädiertes Selbstwertgefühl wird steigen, wenn seine guten Absichten gesehen und gewürdigt werden. Und wenn schließlich das Problem übersichtlich geworden ist, wenn das Muster der Störung erfasst und beschrieben ist, und wenn sich Beeinflussungswege abzeichnen, wird er auch wieder mit Elan an die Aufgaben rangehen.
Die Aktivierung des Klienten ist das zweite Kriterium für eine erfolgreiche Beratung. Gerade wenn es darum geht, Ziele zu erarbeiten und zu verfolgen, ist sie unverzichtbar. Phantasie und genaues Beobachten, der Mut, etwas Neues auszuprobieren, Neugierde auf die Ergebnisse und die Bereitschaft, aus ihnen zu lernen, sind hier gefragt. Auch das sind Ressourcen, die blockiert sein können, und auch hier ist es die Aufgabe des Coach, sie aus der Blockade zu befreien und die Aufgabe des Klienten, sie anzuwenden.
Während der Klient nun mit einem neuen Beobachtungs- und Handlungskonzept im Kopf, mit geschärftem Blick und gestärktem Selbstbewusstsein den beruflichen Alltag angeht, steht der Coach in vereinbarten Abständen – meist alle vier Wochen – für die Diskussion der neuen Erfahrungen zur Verfügung. Dabei werden Erfolge und Misserfolge
gemeinsam ausgewertet, Schlussfolgerungen gezogen und die jeweils nächsten Schritte ausgehandelt. So entwickelt sich ein zirkulärer
Feedback-Prozess, der immer auf die Lösung zielt. Die Lösung ihrerseits entwickelt sich in diesem Prozess mit, bis das Ziel erreicht ist.
Ist das nicht doch genauso wie in unserem Beispiel aus dem Tennis? Nick Bollettieri schafft optimale Bedingungen für einen Sieg, und Andre
Agassi macht sein Spiel, das gemeinsam mit Bollettieri ausgewertet wird, was wiederum in Agassis nächstes Spiel einfließt.... In vieler Hinsicht ist es tatsächlich so, aber es gibt– wie gesagt - einen wesentlichen Unterschied: Für Agassi geht das Coaching auch nach einem Sieg weiter, während die
Zusammenarbeit von Klient und Coach vereinbarungsgemäß endet, wenn der aktuelle Engpass überwunden ist.