
Psychoanalyse: Von der via regia in die Sackgasse?
Michael Kletter
Seit ihrem Bestehen sah sich die Psychoanalyse immer wieder mehr oder weniger heftigen und unterschiedlich begründeten Vorwürfen und Angriffen ausgesetzt. In den letzten Jahrzehnten, seit der Erstarkung der Psychologie an den Universitäten, lautete der Vorwurf vor allem, die Psychoanalyse habe sich zunehmend in ein wissenschaftliches Abseits gebracht, indem sie sich als unfähig erwiesen habe zur Auseinandersetzung mit den Nachbarwissenschaften, deren Erkenntnisse über den Menschen sie in dünkelhafter Haltung zurückweise. Bis auf wenige Ausnahmen an den psychologischen Abteilungen der Universitäten nicht geduldet, habe sie ihre Existenz nur in sektenähnlichem Zusammenhalt und in elitärer Abschottung gegen jede Kritik von außen aufrechterhalten können. Daß die psychoanalytische Ausbildung an selbständigen und unabhängigen Instituten geschieht, bestätige und verstärke die Gefahr insularer Beschränktheit und geistiger Inzucht.
Diese Vorwürfe, auf deren Wahrheitsgehalt später noch eingegangen werden soll, konnten dem Selbstbewusstsein der Psychoanalytiker wenig anhaben. Sie mussten sich nur an Freuds skeptische Gedanken aus dem Jahre 1910 über die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie erinnern: "Die Gesellschaft wird sich nicht beeilen, uns Autorität einzuräumen. Sie muss sich im Widerstand gegen uns befinden, denn wir verhalten uns kritisch gegen sie; wir weisen ihr nach, dass sie an der Verursachung der Neurosen selbst einen großen Anteil hat." So war die Wahrheit wieder einmal auf Seiten der Psychoanalyse und der Widerstand auf Seiten der uneinsichtigen Gesellschaft, eine Position, die Psychoanalytiker gerne einnehmen, zumal sie sich darin ihrem Gründervater nahe sehen können. Außerdem lag in dem Umstand, dass die Psychoanalyse die erste und bis 1987 die einzige zur Kassenbehandlung zugelassene Methode war, eine implizite Bestätigung der Überlegenheit und ein wirksamer Schutz gegen die Kritik der Neider.
Als nach dem Krieg der Psychoanalyse in der Verhaltenstherapie und in den humanistischen Verfahren allmählich Konkurrenz erwuchs, wurden auch die ersten Ergebnisse der vergleichenden Psychotherapieforschung vorgelegt. Sie zeigten im Großen und Ganzen übereinstimmend auf, dass es praktisch keine Unterschiede in der Wirkung der verschiedenen Therapiemethoden gebe. Diese Einschätzung wurde in der Psychotherapieliteratur unter Ausblendung anderslautender Untersuchungsergebnisse lange wie ein gesichertes Faktum behandelt, wohl deshalb, weil sie von jeder Therapierichtung irgendwie zum eigenen Vorteil verwendet werden konnte, auch und besonders von denen, die die Wirksamkeit des eigenen Therapieansatzes in empirischen Untersuchungen überhaupt nicht nachgewiesen hatten. Das heißt, gerade die schlechten oder gar nicht untersuchten Therapieschulen profitierten von der Ergebnisaussage, alle Therapieformen seien gleich wirksam.
Vor kurzem hat sich hier Entscheidendes verändert: 1991 wurde von einer Gruppe anerkannter Universitätslehrer das sogenannte "Forschungsgutachten zu Fragen eines Psychotherapeutengesetzes" vorgelegt, das vom Bundesministerium für Gesundheit in Auftrag gegeben worden war. Mit dem Gesetz sollte der bisher völlig unbefriedigende Status des Psychologischen Psychotherapeuten berufsrechtlich angemessen geregelt werden. In diesem Zusammenhang interessierte den Gesetzgeber verständlicherweise auch, welche Therapiemethoden von den künftigen Psychotherapeuten angewandt werden sollen, um eine möglichst wirksame und effiziente Versorgung der Bevölkerung zu erreichen. Es war zu erwarten, dass mit den Ergebnissen des Gutachtens die scheinbare Pattsituation zwischen den Methoden ein rasches Ende finden würde. Aber wer würde der Gewinner sein? Aus der Sicht des Gesundheitspolitikers in diesen Zeiten immer knapper werdender finanzieller Möglichkeiten spielt jedenfalls die Frage, welche Therapierichtung recht oder unrecht hat, eine untergeordnete Rolle gegenüber dem Interesse, welche Therapiemethode die erwünschten Wirkungen auf den Gesundheitszustand des Patienten am effizientesten herbeiführen und deshalb in ihrer Verbreitung und Anwendung durch Ausbildung und Finanzierung besonders gefördert werden sollte.
Gefragt war also eine sorgfältige Einzelbewertung jedes psychotherapeutischen Verfahrens. Für diese Zwecke des Gutachtens war es ein glücklicher Umstand, auf die Ergebnisse eines umfangreichen Forschungsvorhabens zurückgreifen zu können, das genau die für die Fragestellung des Gutachtens erforderliche Zielsetzung hatte: Es handelt sich dabei um eine in mehr als 12-jähriger Arbeit mit einem Forschungsteam von 18 Mitarbeitern durchgeführte Analyse sämtlicher je publizierter psychotherapeutischer Wirksamkeitsuntersuchungen, die am psychologischen Institut der Universität Bern unter Leitung des zurzeit wohl renommiertesten Psychotherapieforschers Klaus Grawe durchgeführt wurde. Unter den Kriterien dieser wissenschaftlichen Wirksamkeitsbewertung ordnet sich die schier unüberblickbar gewordene Anzahl psychotherapeutischer Ansätze und Methoden zu einer erstaunlich klaren Rangordnung: Eine große Anzahl psychotherapeutischer Ansätze, die sich auf dem Psychomarkt großer Beliebtheit erfreuen, wurde nie einer Wirksamkeitsprüfung unterzogen, die auch nur bescheidenen wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. Entsprechend kommen all diese Methoden und Techniken für die geplanten staatlich geförderten psychotherapeutischen Ausbildungsgänge zum psychologischen Psychotherapeuten nicht in Betracht. Zu dieser Gruppe gehören z.B. die analytische Psychotherapie nach C.G. Jung, die Primärtherapie nach Janov, das neurolinguistische Programmieren und das Rebirthing, um nur einige der bekannteren zu nennen. Es gibt Therapiemethoden, die zwar relativ gut untersucht sind, deren Wirksamkeit durch diese Untersuchungen aber eher in Frage gestellt wurde, was z.B. für das autogene Training gilt. Diese Ansätze sollten aus der psychotherapeutischen Versorgung kranker Menschen ausgeschlossen werden.
Für eine dritte Gruppe psychotherapeutischer Verfahren liegt zwar eine gewisse Anzahl von Wirksamkeitsuntersuchungen vor, die aber zu gering und/oder deren Ergebnislage zu uneindeutig ist, um sie zu den bewährten Therapieverfahren mit nachgewiesener klinischer Wirksamkeit zählen zu können. Hierher gehören z.B. die bioenergetische Therapie, Musiktherapie, Tanz- und Kunsttherapie, die Transaktionsanalyse und die Gestalttherapie. Dabei wird nicht ausgeschlossen, dass diese Methoden bei weiterer Forschungsaktivität in absehbarer Zeit seriöse Wirksamkeitsbeweise vorlegen können und sich damit für die zukünftigen Ausbildungsgänge der psychologischen Psychotherapeuten qualifizieren. Zu guter Letzt gibt es eine sehr überschaubar gewordene Gruppe von drei therapeutischen Ansätzen, denen aufgrund einer großen Zahl kontrollierter Wirksamkeitsuntersuchungen der Status von Therapieverfahren mit zweifelsfrei nachgewiesener Wirksamkeit zugebilligt werden muss: Es handelt sich um die kognitiv-behavioralen Therapien, die psychoanalytische Therapie und die Gesprächspsychotherapie. Letztere stellt zwar eine nachweislich wirksame psychotherapeutische Methode dar, was sie jedoch von den beiden anderen Ansätzen unterscheidet, ist das Fehlen einer angemessenen theoretischen Basis, sodass sie als therapeutische Grundorientierung für die Ausbildung der zukünftigen Fachpsychologen nicht in Frage kommt. Bleiben also mit der psychoanalytischen und der an der empirischen Psychologie orientierten Grundorientierung zwei breite Strömungen, die historisch und aktuell die weitaus wichtigsten Zulieferer zum Gesamtreservoir der wissenschaftlichen Psychotherapie sind. Zwischen diesen beiden Siegern des Wettbewerbs bestehen allerdings laut Gutachten hinsichtlich der wissenschaftlichen Qualität ihres Wirksamkeitsnachweises erhebliche Unterschiede: Bei der Gruppe der verhaltenstherapeutischen und kognitiven Therapieverfahren handle es sich um die am weitaus besten untersuchte therapeutische Orientierung. Die Basis für Ergebnisaussagen zu diesem Ansatz sei somit erheblich breiter als bei den psychodynamischen Methoden. In der zusammenfassenden Bewertung dieses Ansatzes heißt es im Gutachten: "Die Ergebnislage zur Wirksamkeit der kognitiv-behavioralen Therapiemethoden kann nur zu der Schlussfolgerung führen, dass die Anwendung dieser Methoden in der psychotherapeutischen Versorgungspraxis eine möglichst große Rolle spielen sollte. Dagegen heißt es in der bewertenden Zusammenfassung für die psychoanalytischen Therapieverfahren: "Psychoanalytische Therapien sind besser im Hinblick auf ihre Wirksamkeit untersucht, als viele Psychoanalytiker selbst annehmen." Und etwas später: "Psychoanalytische Therapie kann daher als bewährtes Therapieverfahren angesehen werden.“
Zusammenfassend schlagen die Gutachter vor, dass die Ausbildung für den Beruf des psychologischen Psychotherapeuten entweder auf der Basis der psychoanalytischen oder der aus der empirischen Psychologie hervorgegangenen Grundorientierung erfolgen soll, und dass dabei in allen Ausbildungsgängen grundsätzlich das handlungsrelevante Wissen über den Gesamtbereich der Psychotherapie vermittelt und auch im Handlungsrepertoire eine möglichst große Breite angestrebt werden sollte.
Im Gutachten kommt zwar zum Ausdruck, dass der Überlegenheitsanspruch der psychoanalytischen Therapie gegenüber allen anderen Methoden nicht weiter aufrechterhalten werden kann, insgesamt erscheint die Psychoanalyse hier jedoch in einem viel besseren Licht als in dem erst vor wenigen Wochen der Öffentlichkeit zugänglich gewordenen Forschungsbericht von Grawe, aus dem das Gutachten schon vorab seine Daten bezogen hatte.
Dort steht z.B., dass die Anzahl der vorliegenden Untersuchungen zur psychoanalytischen Therapie bei weitem nicht der Verbreitung dieser Therapieform in der klinischen Versorgung entspreche, dass die methodische Qualität der Studien eher unterdurchschnittlich sei, dass die Befundlage zur psychoanalytisch orientierten Therapie weder quantitativ noch qualitativ beeindruckend sei, und dass für ihre breite Anwendung im Bereich der psychosomatischen Störungen überzeugende Wirkungsnachweise noch vollständig ausstünden. Diese Kritik bezieht sich sowohl auf die psychoanalytisch orientierte Therapie mit einer Therapiedauer von bis zu 100 Stunden als auch auf die psychoanalytische Kurztherapie mit einer Therapiedauer von bis zu 30 Stunden, die die am besten untersuchte psychodynamische Therapieform darstellt.
Ironischerweise gilt für beide Anwendungsformen der Psychoanalyse, dass sich bei verschiedenen neurotischen Problemen und Persönlichkeitsstörungen regelmäßig Besserungen der Symptomatik feststellen lassen, dass im zwischenmenschlichen Bereich und im Persönlichkeitsbereich jedoch keine Veränderungen eintreten. Ironischerweise deshalb, weil gerade dies einen Vorwurf der Psychoanalytiker an die Verhaltenstherapie darstellt, während Verhaltenstherapie nach der empirischen Befundlage eben jenes breite Wirkungsspektrum zu haben scheint, das für die psychoanalytische Therapie selbstverständlich in Anspruch genommen wurde.
Zur sogenannten Standardanalyse, d.h. der klassischen Langzeitanalyse mit wöchentlich 3-5 Therapiesitzungen und einer Gesamtdauer von mehreren 100 Stunden, gibt es überhaupt keine kontrollierte Wirksamkeitsstudie, d.h., es gibt bisher keinen einzigen stichhaltigen Beleg für die Wirksamkeit dieser Therapieform, womit sich aus der Perspektive der vergleichenden Psychotherapieforschung die Langzeitanalyse hinsichtlich ihres wissenschaftlichen Status, was ihre Bewertung als Therapiemethode angeht, auf der untersten denkbaren Stufe bewegt.
Nachdem das "Forschungsgutachten" noch mit besorgtem Befremden entgegengenommen wurde, hat die vor kurzem erfolgte Veröffentlichung der Grawe-Untersuchung die Psychoanalytiker in helle Aufregung versetzt. Wie aus Erfahrung nicht anders zu erwarten war, reagieren auch diesmal prominente Vertreter auf die ungünstigen Forschungsergebnisse mit dem Argument, die in der Psychotherapieforschung angelegten Kriterien seien ihrer speziellen Methode und deren Zielen nicht angemessen, vielmehr seien die zitierten Studien so angelegt, dass die Überlegenheit der Verhaltenstherapie dabei herauskommen müsse. Die meisten Psychoanalytiker vertreten die Auffassung, dass empirische Forschung in der Psychoanalyse gar nicht gelingen könne, weil das objektivierende Registrieren von außen dem menschlichen Erleben nicht gerecht werden könne. Dem kann wohl kaum widersprochen werden, denn als oberstes Ziel psychoanalytischer Methodologie gilt ja, wie Mertens (1991) es formuliert hat, "das maximale Zulassenkönnen der Subjektivität bei optimaler Selbstreflexion dieser Subjektivität auf Seiten des Psychoanalytikers, womit das Nachzeichnen einer höchst eigenen, unverwechselbaren Identität auf Seiten des Analysanden erreicht werden soll.“
Dazu geht der Analytiker auf psychische Tuchfühlung: Er lässt sich lieben und hassen, sehnsuchtsvoll herbeiwünschen und respektlos kritisieren." Dass ein solcher Prozess sich nicht von außen registrieren, messen und berechnen lässt, leuchtet unmittelbar ein. Diese Argumentation gegen die Anwendung der Psychotherapieforschung auf die Psychoanalyse bleibt natürlich nicht ohne Widerspruch von Seiten der Psychotherapieforscher: Denn wie bei jeder Therapie sei es auch bei der Psychoanalyse möglich, das einfachste aber auch relevanteste Kriterium dafür, ob eine Therapie bewirkt, was sie bewirken soll, anzuwenden, nämlich den Patienten direkt zu fragen, ob und in welcher Hinsicht ihm die Therapie genützt hat. Wer sich aber überhaupt nicht dafür interessiert, ob die von ihm favorisierte Therapie bewirkt, was sie nach ihren eigenen Kriterien bewirken soll, erscheint wenig glaubwürdig und wird sich auf Dauer nicht dem Verdacht entziehen können, dass er seine Therapieergebnisse deswegen nicht empirisch erforscht, weil er fürchtet, dass sie eine Überprüfung nicht vertragen.
Glücklicherweise zeichnet sich hier allmählich ein Wandel ab, der durch die hier referierten Veröffentlichungen sicher verstärkt wird. Immer mehr Psychoanalytiker sehen inzwischen die Notwendigkeit, sich Gedanken darüber zu machen, wie ihre anerkanntermaßen guten Theorien zu wirksameren Therapien führen können. Auf gerade diese Weise ist ja die Verhaltenstherapie inzwischen zu ihrem enormen Einfluss gekommen: Sie hat konsequent alle empirischen Ergebnisse zur Kenntnis genommen und daraus weitere Schlussfolgerungen gezogen.
Und dies wäre der Psychoanalyse auch schon früher möglich gewesen. Anstatt sich hinter dem nicht sehr redlichen Argument der Unangemessenheit üblicher Therapieforschungskriterien bequem zu machen, hätte sie eben angemessene Kriterien entwickeln müssen. Es gibt doch zu denken, dass im Jahr 1993, als von Seiten der KBV psychoanalytische Therapien mit einer Stundenfrequenz von mehr als 3 Sitzungen pro Woche als Kassenleistung ausgeschlossen wurden, umgehend die beiden großen psychoanalytischen Gesellschaften ein gemeinsames Forschungsprojekt in die Wege leiteten, in dem die Überlegenheit der hochfrequenten Therapie bei bestimmten Störungen nachgewiesen werden soll. Dies mutet peinlich an und stellt die analytischen Gesellschaften und besonders ihre Funktionäre in kein gutes Licht: Denn solange die Pfründe nicht in Gefahr waren, galt das persönliche Evidenzerlebnis und das subjektive Erleben der eigenen Effektivität als ausreichend, und eine empirische Überprüfung des eigenen Tuns als verzichtbar. Hier zeigt sich wieder einmal, dass eisern verteidigte "wissenschaftliche Standpunkte" sich unter finanziellem Druck als rasch relativierbar erweisen.
Noch 1990 konnte es sich die deutsche Psychoanalyse leisten, eine Studie einfach nicht zur Kenntnis zu nehmen, die so ungefähr alle Erwartungen über den Haufen geworfen hat, die Analytiker gemeinhin mit Langzeitanalysen verbinden. Es handelt sich um die "Menninger-Studie", eine der aufwendigsten und bedeutendsten je durchgeführten Therapiestudien. Es hat die Creme de la Creme der amerikanischen Psychoanalyse daran mitgewirkt, bis heute ist in 69 Veröffentlichungen darüber berichtet worden. Ziel der Untersuchung ist ein Wirkungsvergleich zwischen der klassischen, ganz auf aufdeckende therapeutische Interventionen und die Analyse der Übertragungsbeziehung ausgerichteten Psychoanalyse und einer Ich-stärkenden, supportiven Therapie mit einer nur begrenzten aufdeckenden Zielsetzung. Als wichtigste Ergebnisse ergaben sich:
- Der Therapieerfolg lag in beiden Gruppen bei ca. 60% gut und befriedigend, d.h. die nach Stundenzahl 3-mal so intensive aufdeckende Behandlung war nicht wirksamer als die wesentlich weniger aufwendige supportive Therapie.
- Bei keiner Indikationsstellung für die aufdeckende Psychoanalyse konnte dieses Konzept in ihrer beabsichtigten Form realisiert werden, je schwerer gestört der Patient war, desto mehr wurden supportive Elemente angewandt.
- Entsprechend der Grundannahme der psychoanalytischen Behandlungstheorie hatten die Untersucher für die Psychoanalysepatienten tiefgreifendere und dauerhaftere strukturelle Veränderungen vorausgesagt, für die Patienten in Psychotherapie dagegen begrenztere und weniger stabile Veränderungen, und zwar umso begrenzter, je ausgeprägter der supportive Charakter der Therapie sein würde. Diese Voraussage bestätigte sich in keiner Weise: Die tatsächlichen Veränderungen waren bei den Psychoanalyse-Patienten erheblich bescheidener als vorausgesagt, bei den supportiven Therapien dafür deutlich besser als erwartet. Dies galt umso mehr, je schwerer gestört die Patienten waren. Die Behandlungsergebnisse mit Psychoanalyse waren bei besonders schwer gestörten Patienten besonders schlecht, während supportive Therapie bei diesen Patienten bessere Erfolge bewirkte als erwartet.
Die Hauptschlussfolgerungen der Untersucher aus diesen Ergebnissen ist, dass die Einsicht in unbewusste Konflikte sich zwar auch empirisch als wichtiger Veränderungsfaktor erwiesen habe, dass dieser Veränderungsfaktor aber in der psychoanalytischen Theorie zu sehr verabsolutiert worden sei.
Bezüglich der Indikation lassen sich zwei klare Aussagen aus den berichteten Ergebnissen ableiten:
- Es gibt keine positive Indikation für eine Langzeitpsychoanalyse. In Qualität, Quantität und Stabilität vergleichbare Effekte wurden auch mit sitzenden Psychotherapien von viel kürzerer Dauer erzielt.
- Langzeitpsychoanalysen sind kontraindiziert für schwerer gestörte Patienten. Bei solchen Patienten sind Psychoanalysen nicht nur weniger wirksam, sondern sie beinhalten auch ein relativ großes Risiko schädigender Effekte.
Nach den Ergebnissen dieser Studie hätte man erwarten dürfen, dass die Bedeutung supportiver Veränderungsfaktoren in der psychoanalytischen Behandlungstheorie stärker berücksichtigt und ausgearbeitet werden würde. Aber zumindest nach dem, was ich beobachten konnte, ist nichts dergleichen geschehen. Dabei ist es doch wirklich schwer vorzustellen, dass die genannten Forschungsresultate keine Relevanz für die psychoanalytische Ausbildung und Versorgung haben sollen, nicht einmal Anlass zu engagierten Diskussionen haben geben können. Dieser Umstand, dass der Transfer zwischen Psychotherapieforschung und Psychotherapiepraxis nicht funktioniert, ist jedoch kein spezifisches Problem der Psychoanalytiker, sondern findet sich in allen Therapieschulen.
Aus dem Bereich der Psychoanalyse gab Nedelmann, ein sehr prominenter Analytiker, vor kurzem ein eindrucksvolles Beispiel für dieses Phänomen: Bei der vorhin bereits erwähnten Auseinandersetzung zwischen der DPV und der KBV um die hochfrequente Psychoanalyse wurden von ihm als Verhandlungsführer alle in der Menninger-Studie widerlegten Annahmen, mit denen die Langzeitpsychoanalyse begründet wird, wieder aufgeführt. Zwei Jahre nach Erscheinen dieses Artikels in einer deutschen Zeitschrift war er bereits wieder komplett verleugnet! Warum werden Informationen über die tatsächliche Wirksamkeit der eigenen Disziplin aus den Ausbildungsgängen der Institute ausgeklammert, ein Vorgehen der Institutskader, das offenbar bei allen Therapieschulen anzutreffen ist. Grawe sieht den Hauptgrund dafür in dem therapieschulorientierten Ausbildungssystem. Er führt aus: "Denn was sollte jemand tun, der von Psychotherapie nichts anderes gelernt hat, als z.B. die Psychologie und Therapie C.G. Jungs, wenn sich herausstellte, dass diese Therapie weniger bewirkt als andere Therapiemethoden? Nicht nur, dass sich das viele Geld, das er für seine Ausbildung bezahlt hat, als fehlinvestiert erwiese, nein, sein ganzes im Zuge der Ausbildung übernommenes Überzeugungssystem und damit seine professionelle Identität stünden auf dem Spiel. Welche professionelle Identität bliebe jemandem, dessen Ausbildung in einer einzigen Therapieschule bestanden hat, wenn ihm diese Grundlage entzogen oder in Zweifel gestellt wird?“
Nach meinen eigenen Beobachtungen blieb z. B. mehr als die Hälfte der Kollegen meines Abschlussjahrgangs sehr eng an das Ausbildungsinstitut gebunden, die meisten davon in der Hoffnung, selbst einmal Dozenten oder Lehranalytiker zu werden. Die anderen gingen aus unterschiedlichen Gründen auf mehr oder weniger große Distanz zum Institut, was allerdings nur vereinzelt mit einer kritischen Emanzipation gegenüber den vermittelten Inhalten Hand in Hand ging. Im persönlichen Gespräch räumen die meisten Kollegen ein, unter dem hohen Anspruch der psychoanalytischen Zielsetzungen und dem oft so weit davon entfernten Alltag der psychoanalytischen Praxis zu leiden. Den Blick über den Gartenzaun zu den benachbarten Therapieschulen wagt allerdings kaum jemand, was für Vertreter einer Methode, die Autonomie als oberstes Ziel nennt, kein besonders gutes Zeugnis darstellt.
Ich selbst hatte rückblickend gesehen das Glück, während der psychoanalytischen Ausbildung mit vielen Funktionsträgern des Instituts in Streit zu geraten oder zumindest in konflikthafter Beziehung zu stehen, und das vielleicht noch größere Glück, an einen autonomen Lehranalytiker zu kommen, der sich eine kritische Distanz zur Psychoanalyse und vor allem zum Ausbildungsinstitut erarbeitet hatte. Später war es dann fast logisch, dass mich ein Autor besonders beeindruckt und beeinflusst hat, der sich kritisch mit der psychoanalytischen Behandlungstheorie und -praxis auseinandergesetzt hat und aus eigenen Forschungsergebnissen und denen anderer Forscher die Notwendigkeit zur Revision des psychoanalytischen Therapiekonzepts abgeleitet hat. Es handelt sich um Peter Fürstenau und sein Konzept der progressionsorientierten psychoanalytisch-systemischen Therapie. Mit seinem Mut, das psychoanalytische Instrumentarium angstfrei zu prüfen und viele für selbstverständlich gehaltene Positionen mit einem Fragezeichen zu versehen, steht er in wohltuendem Kontrast zu der weit verbreiteten Hörigkeit gegenüber der gängigen Lehrmeinung in den Gesellschaften und an den Instituten.
Um auf den bewusst provozierenden Titel des Referats zurückzukommen: "Psychoanalyse: Von der via regia in die Sackgasse?": Meine persönliche Meinung ist, dass die Psychoanalyse als Behandlungsmethode schon seit geraumer Zeit in der Sackgasse steckt, ohne es bisher in der nötigen Klarheit wahrgenommen zu haben. Insofern beinhalten Veröffentlichungen wie die von Grawe die Chance eines heilsamen Schocks, auch wenn sie sicherlich nicht der Weisheit letzter Schluss sind. Unglücklicherweise bringen sie aber auch die Gefahr mit sich, eine weitere Versteifung überkommener Positionen auszulösen. Analytiker wie Fürstenau, die mit kritischem Realismus das Potenzial und die Grenzen der Psychoanalyse wahrnehmen und den Mut haben, Bewährtes von anderen Schulen zu integrieren, um so den unterschiedlichen Bedürfnissen der Patienten in unserer vielschichtigen Gesellschaft gerecht zu werden, können die Psychoanalyse aus der Sackgasse herausführen. Doch das sind relativ wenige und sie befinden sich als Abweichler in der Regel nicht in mächtigen Verbandspositionen. Diese sind überwiegend besetzt von Funktionären, die sich als Bewahrer der reinen Lehre verstehen und an den Weiterbildungsinstituten nach wie vor idealistisch-normative Positionen vertreten. Solche Psychoanalytiker sind dafür verantwortlich, dass das Erlernen einer Standardanalyse nach wie vor das Herzstück psychoanalytischer Ausbildung ist, obwohl sich auch innerhalb psychoanalytischer Forschung immer mehr erwiesen hat, dass eine positive Indikation dazu eine seltene Ausnahme ist. Die im therapeutischen Alltag notwendige Verfügung über Fähigkeiten in verschiedenen Behandlungssettings (Einzel-, Paar-, Familien-, Gruppentherapie) wird dagegen in der Ausbildung bestenfalls fakultativ angeboten und letztlich nicht für bedeutsam gehalten.
Ich sehe die Psychoanalyse also tatsächlich in Gefahr, allerdings nicht durch eine behauptete Überlegenheit anderer Methoden, auch nicht durch angeblich benachteiligte Forschungsergebnisse der Empiriker, sondern durch die Selbststrangulation, die die Orthodoxen und Puristen ihr verschrieben haben.
Referat vor der „Schwabinger Gesprächsrunde“